Redeauszug der Bundestagsabgeordneten Dorothee Bär in der Bundestagsdebatte zu menschenunwürdigen Zuständen in der Prostitution, 23.2.2024:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jeder in Deutschland kennt Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Man fragt sich bei den Zuständen in unserem Land, ob die Würde des Menschen, die für alle angeblich unantastbar ist, wirklich für alle gilt – auch für Prostituierte, deren Namen niemand kennt: für Mariana, für Raluca, für Hafga, für Maliya oder für Li. Oder gilt es nur für vermeintlich Privilegierte?

Wir sprechen nicht über Menschen irgendwo auf der Welt, sondern mitten in der Hauptstadt, mitten hier in Berlin, ganz in der Nähe von uns, Luftlinie Bundestag– Kurfürstenstraße: 1,25 Kilometer, an denen und auch an Verrichtungsboxen viele Abgeordnete jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vorbeikommen. Namenlose, Gesichtslose. Wer sich aber einmal hineingewagt hat, mit den Frauen gesprochen hat, Erlebnisse mitbekommen hat, der kann nicht mehr wegschauen.

Frauen werden in unserem Land jeden Tag aufs Abscheulichste missbraucht, zum Objekt degradiert. Es geht ganz, ganz selten um Sex; das ist ja so ein Mythos. Es geht um Demütigung. Es geht darum, diese Frauen zu benutzen, kleinzuhalten, Macht auszuüben. Es ist ein aufregender Dreiklang beim Thema Prostitution: Es ist Klassismus, es ist Rassismus, es ist Sexismus.

Über 80 Prozent der Prostituierten kommen aus dem Ausland – aus Osteuropa, aus Asien, aus Afrika – und werden hierher verschleppt: Loverboy-Methode, Voodoo-Methode. Sie können es sich nicht ausdenken. Man kann Frauen im Internet shoppen: nach Haarfarbe, nach Augenfarbe, rasiert oder nicht rasiert, nach Körbchengröße, nach Alter.

Ich finde, wir alle müssen hier als Lobbyistinnen und Lobbyisten für diese Namenlosen, für die Gesichtslosen stehen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich war eine, die „feministische Außenpolitik“ von Anfang an ganz positiv fand. Feminismus: Toller Titel! Großartig! Vielleicht tut sich was für die Menschen, für die Frauen auf der Welt. Aber feministische Außenpolitik bedingt auch feministische Innenpolitik.

Wo ist denn eigentlich der Feminismus der Grünen, wenn man ihn mal braucht?

Schauen Sie sich mal die Zuschriften von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern an, die uns jeden Tag schreiben, was sie erleben: von den Frauen, die von den Beleidigungen berichten, den Schlägen, den Tritten, den Vergewaltigungen, den Einsperrungen. Ein ganz neues Hobby – großartig! –, was Frauen in der Prostitution erleben: Am liebsten würgt man sie. Klar, das hat immer nur was mit sexueller Befriedigung zu tun und vor allem natürlich auch mit Selbstbestimmung. Würgen: Ein ganz großartiges Hobby! Schauen Sie mal in die Gewaltschutzambulanzen, was da los ist: halb zu Tode gewürgte Frauen. Und dann sprechen Sie von Freiwilligkeit. Ich sage Ihnen eins: Freiwilligkeit, Konsens schließen Bezahlung aus.

Es sind immer die gleichen Sprüche – das werden wir heute auch wieder hören –, immer die gleichen Mythen, die das Gewissen der Gewissenlosen beruhigen sollen: Prostituierte machen es freiwillig. – Heute im „Tagesspiegel“ ein Prozessbericht: Eine Siebzehnjährige wurde jede Nacht zwischen 5- und 13-mal zum Sex gezwungen. Megafreiwillige Geschichte! Selbst wenn es eine, zwei, drei, vier, fünf Freiwillige in diesem Land gäbe, dann bedeutet es doch nicht, dass wir bei über 80 Prozent wegschauen können. Das geht einfach nicht!

Ich wehre mich auch gegen die Bebilderung. Das Bild in Deutschland ist das der selbstbestimmten Domina aus Deutschland, die sich aussuchen kann, wen sie bedient. Nein, so ist es eben nicht. Es gibt viele, die es sich nicht aussuchen können, die jede Nacht fünf, sechs, sieben, acht, neun Männern – egal wer vor ihnen steht – zur Verfügung stehen müssen.

Oder – noch schöner –: Prostitution, eine Arbeit wie jede andere. – Auf welcher Arbeit haben Sie beispielsweise überall einen Notfallknopf, damit Sie, wenn Sie kurz davor sind, umgebracht zu werden, noch schnell die Security rufen können? Wo gibt es das denn? Warum machen wir eigentlich keine Betriebspraktika in der Schule für Prostitution, wenn es doch ein Job wie jeder andere ist? Warum macht die BA keine große Aufklärungskampagne: Komm, werd Prostituierte! Das ist doch eine Arbeit wie jede andere. – Das ist es eben nicht.

Weiter: Prostitution verhindert Vergewaltigungen. – Auch wunderschön. Natürlich, klar! Was hat der, der das sagt, eigentlich für ein Männerbild? Ja, wir müssen ein paar Frauen zur Verfügung stellen, weil Männer ja nicht anders können. – Das ist nicht mein Männerbild.

Oder: Wir müssen ein paar Frauen zur Verfügung stellen, damit die nicht unsere deutschen Frauen vergewaltigen. Da holen wir doch ein paar aus dem Ausland, das ist doch nicht so schlimm.

Leute, ganz, ganz ehrlich: So läuft es nicht.

Oder: Es sind doch unter den Freiern auch ein paar Nette. – Lesen Sie sich mal Beiträge in Freierforen durch. Wenn Sie heute schon gegessen haben, machen Sie es nicht! Zitat: „Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass sie zu jung für mich war, aber sie war halt mein Typ, und dann habe ich es trotzdem gemacht.“ Und: „Sie hat dauernd: ‚Aua, aua, auaʼ gesagt. Das fand ich dann noch geiler.“ Die schlimmeren Zitate erspare ich Ihnen alle.

Und: Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt. – Auch ein toller Satz. Das ist natürlich das dümmste Argument von allen. Außerdem muss man sagen: Wenn es wirklich so wäre, dann brauchen wir jetzt aber eine dringende Änderung, weil Gesetze eben eine normative Wirkung haben.

Sie werden heute sicherlich auch wieder hören: Ja, die Union unterscheidet nicht. Es gibt Freiwilligkeit, es gibt keine Freiwilligkeit. – Ich sage noch mal: Diese Freiwilligkeit – das sagen auch alle Sozialarbeiter –, selbst wenn sie am Anfang mal da war, ist am Ende eben nicht mehr da, weil die Frauen gebrochen sind, weil die Frauen psychisch zerstört sind, weil die Frauen physisch zerstört sind, weil die Frauen inkontinent sind, weil die Frauen posttraumatische Belastungsstörungen haben, analog zu einem Soldaten, der im Auslandseinsatz war. An der Stelle können wir einfach nicht länger wegschauen.

Es gäbe noch viel mehr Mythen. Ich bin mir sicher, wir werden irgendwann hier stehen – ich hoffe, es dauert nicht mehr so lange: fünf Jahre, zehn Jahre, zwanzig Jahre – und werden uns sagen: Ach, im Jahr 2024 konnte man noch Frauenkörper kaufen. Wahnsinn! – Genauso wie wir heute hier stehen und sagen: „Es gab mal Sklavenhandel, und es gab mal Kinderarbeit“, bin ich mir sicher, dass wir irgendwann mal an dem Punkt sind, an dem wir Prostitution nicht mehr dulden.

Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, dass er es auch schlimm findet. Ich würde mir aber wünschen, dass die Bundesfrauenministerin nicht wieder von „Evaluationen“ spricht. Schluss mit Evaluationen, Schluss mit Mythen! Solange Mariana und Raluca jeden Tag misshandelt werden, brauchen wir über Gleichberechtigung in diesem Land überhaupt nicht zu reden.

Herzlichen Dank.

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