Redeauszug der Bundestagsabgeordneten Dorothee Bär in der Vereinbarten Debatte im Deutschen Bundestag anlässlich 175 Jahre Nationalversammlung in der Paulskirche am 11.5.2023:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 

Ich denke, es ist unstrittig, dass die Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 als wegweisend für die Entwicklung unserer deutschen Demokratie gelten – trotz des Scheiterns der Revolution und der Verfassungsbewegung im 19. Jahrhundert und vor allem trotz des Rückschlags in die demokratiegeschichtliche Finsternis unter den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert. Das ist deshalb umso bemerkenswerter, als die Beratungen zunächst nur als Anlauf zu einer demokratischen Verfassung zu sehen sind.

Man muss sich vorstellen: Überall hat es 1848/1849 in den deutschen Ländern – das ist so lange auch noch nicht her – gebrannt. Es wurde von Revolutionären und Frei-schärlern gezündelt, heute würde man sagen: von den Rändern. Und dennoch: Der demokratiehistorische Akzent, den die Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Parlaments gesetzt hatten, hat bis heute überdauert. „Die Zeit“ hat geschrieben – ich darf zitieren –: … die Ideen von Freiheit, Recht und Einigkeit ließen sich nicht niederknallen.

Grundlage für unsere Grundrechte

Ich finde es bemerkenswert, wie auch teilweise heute schon versucht wurde, die Geschichte umzudeuten oder für sich zu okkupieren. Die Geschichte mahnt uns auch zu Demut und zu Dankbarkeit, weil für das Erbe der liberalen Bewegung und der Paulskirche eben Generationen vor uns einen hohen Preis gezahlt haben. Die Vordenker für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben in der Paulskirche die Grundlage für unsere Grundrechte, für ein modernes Parteienwesen, für die Pressefreiheit, für die Versammlungsfreiheit, für das Vereinsrecht, aber auch für die Gleichstellung von Gruppen gelegt. Das war natürlich noch kein getreues Abbild der sozialen Schichtung. Der Gedanke von Gleichstellung ist heute – Gott sei Dank! – ein ganz anderer.

Ich richte an unsere Besucherinnen und Besucher folgenden Appell: Wenn Sie in Berlin noch Zeit haben, lohnt sich die Parlamentshistorische Ausstellung des Deutschen Bundestags im Deutschen Dom. Dort gibt es die Möglichkeit, die Atmosphäre in der Paulskirche von da-mals zu erleben. Sie stehen dann quasi mittendrin, also unter 800 Männern. Probieren Sie es mal aus, gerade als Frau. Sie sehen dann auf den Rängen die Frauen sitzen. Das ist auf jeden Fall noch gar nicht so lange her. Diese Ausstellung lohnt sich sehr, und der Deutsche Bundestag hat das meines Erachtens auch sehr schön dargestellt.    

Frauen durften nur auf der Empore sitzen. Man muss sich heute mal vorstellen, wie es wäre, wenn hier unten nur Männer säßen und oben nur Frauen. Das wäre ein ganz anderes Bild. Aber es gab damals schon viele Frauen, die viel auf sich genommen haben, um dabei zu sein. Um sich vorstellen zu können, wie es damals war: Um auch in die Versammlung hineinzudürfen, mussten Frauen im Vorfeld sehr lange auf einen Platz warten und kühlten sich daher ihre Schläfen mit Kölnisch Wasser. Sie wollten in der Geburtsstunde unserer Verfassung dabei sein. Auch das ist etwas, was wir uns heute – Gott sei Dank! – so nicht mehr vorstellen können.

Meinungsfreiheit, Versammlung und Glaubensfreiheit

Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Glaubensfreiheit: Das waren auch die Forderungen der Frauen. Es waren die Forderungen eines Volkes. Ich denke, an diesem Anspruch hat sich nichts geändert. Der Grundstein wurde vor 175 Jahren gelegt und das Gebäude Stück für Stück darauf errichtet. Das heißt, die Paulskirchenverfassung ist der Schlüssel für die Tür zum Haus der Demokratie, in dem wir heute leben dürfen.

Deshalb ist es uns, den demokratisch gewählten Abgeordneten von heute, die wir Parteien vertreten, die sich auf dem Boden der Demokratie befinden, nicht nur eine Ehre, sondern gleichermaßen auch eine Verpflichtung, der Ereignisse von damals zu gedenken. Deswegen lohnt es sich, die Verwendung der Paulskirche heutzutage in den Blick zu nehmen. Wie wird der Ort genutzt? Darauf möchte ich kurz eingehen. Ich freue mich sehr, dass die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels dort stattfindet oder auch die Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises.    

Mehr Paulskirche wagen!

Stichwort „Stiftung“: Wir haben in der unionsgeführten Bundesregierung die Errichtung der Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte entschlossen vorangetrieben. An dieser Stelle möchte ich mit Blick auf die Ampel erwähnen: Ich glaube, dass wir durch das Verweilen an Schlüsselorten unserer Freiheitsgeschichte mehr zur Vermittlung von Demokratiebewusstsein beitragen als beispielsweise ein Blankoscheck für zig Millionen Bundesmittel für das sogenannte Demokratiefördergesetz. Vielleicht können Sie darüber noch einmal nachdenken.

– Ich finde es bemerkenswert, dass Sie eine Bitte zum Nachdenken schon überfordert. Ich habe das ganz höflich ausgedrückt.

Deshalb mein Appell – ich darf noch einmal „Die Zeit“ zitieren –: „Mehr Paulskirche wagen!“ Ich würde auch die Bundesregierung bitten, das Haus der Demokratie mit Leben zu füllen. Sie sind jetzt in der Verantwortung, dieses Haus auf dem Fundament der Verbindung und der Einheit kraftvoll und solide weiterzubauen.

Für alle Rednerinnen und Redner der Ampel, die heute hier gesprochen haben, vielleicht noch ein Gedankenanstoß: Wenn es Ihnen wirklich darum geht, die Demokratie mit allen Mitteln zu verteidigen, und auch der Wunsch herrscht, dass es hier ein Parlament gibt mit unterschiedlichen Ansichten, würde ich Sie bitten, darüber nachzudenken, ob Sie sich vielleicht doch noch von der Wahlrechtsmanipulation verabschieden.

– Ja, Wahrheit tut manchmal weh.

Wenn man das Hohelied auf die Demokratie singt, dann muss man eben auch damit leben, dass hier Parteien sitzen, die vielleicht nicht immer Ihrer Meinung sind.

Ein Letztes noch an die AfD; Sie haben es vorhin auch selber angesprochen: Es ist ein ganz großer Hohn, dass ausgerechnet die Partei, die nur durch Hetze und Spaltung auffällt, ihren Fraktionssitzungssaal „Paulskirche“ nennt. Das finde ich wirklich absolut abscheulich, und das passt zum heutigen Tag auch überhaupt nicht.
 

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