Bundesminister Dr. Gerd Müller MdB
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So formuliert es das Grundgesetz klar und deutlich. Die Menschenwürde ist der oberste Wert des Grundgesetzes, sie ist seine wichtigste Wertentscheidung. Alle anderen Rechte und Bestimmungen müssen vor diesem Grundsatz bestehen, sich nach ihm richten. Unser Menschsein verbindet uns als Inhaber dieser unveräußerlichen Würde. Aber: Diese Würde und die daraus abgeleiteten Menschenrechte sind in vielen Ländern der Welt jeden Tag gefährdet. Ich sage es deutlicher: Die Menschenwürde wird missachtet, sie wird verletzt und mit Füßen getreten. Sei es, dass die Näherinnen in Bangladesch unter unsäglichen Bedingungen arbeiten müssen und mit einem Hungerlohn nach Hause geschickt werden, sei es, dass Kinder in den Gerbereien Indiens mit nackten Füßen in Chemikalien stehen, damit wir für wenig Geld weiches Leder tragen können. Oder sei es, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus im Irak Grund und Ursache für Diskriminierung oder gar für Mord ist.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt auch für diejenigen, die jenseits unserer Grenzen leben und die nicht im Geltungsbereich des Grundgesetzes wohnen. Das oberste Ziel unserer Entwicklungspolitik ist daher, der Würde des Menschen weltweit Geltung zu verschaffen. Es gilt, gegen die Verletzungen dieser Würde vorzugehen. Meine Entwicklungspolitik richtet sich aus diesem Grund nach innen und nach außen. Wir müssen die Menschen in Deutschland sensibilisieren. Wir müssen Sie achtsam und aufmerksam werden lassen für die Situation der Näherinnen in Bangladesch und für das Leid der Kinder in den Gerbereien von Indien. Alles hängt mit allem zusammen. Mein Kaufverhalten entscheidet über die Lebensbedingungen anderer Menschen. Unsere Firmen können durch eine nachweisbare Wertschöpfungskette dafür sorgen, dass gerechte Löhne weltweit zum Markenkern gehören und besiegelt werden.
„Weit weg ist näher als du denkst!“ Dieses Jahresmotto der Caritas macht sehr schön deutlich, dass wir nicht wegschauen dürfen. Die christliche Auffassung, dass mein Nächster auch in der weitest entfernten Hütte lebt, gewinnt zunehmend an Aktualität.
Die Welt steht vor globalen Herausforderungen: Bevölkerungswachstum, Klimawandel, bewaffnete Konflikte und Flüchtlingsströme sind einige davon. Schwellenländer treten als neue Gestaltungsmächte auf die Weltbühne und so verschieben sich mit den politischen und ökonomischen Machtverhältnissen auch die bisherigen Koordinaten der geltenden Wertesysteme. Die Annahme vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), vom unaufhaltsamen Siegeszug von Demokratie, Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit hat sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil: Autokratische Systeme gewinnen in dem Maße an Attraktivität, in dem der Glaube an den Erfolg westlicher Marktwirtschaften durch die Finanzkrise erschüttert wurde. Insbesondere in Afrika tritt die Konkurrenz verschiedener Wertesysteme durch das starke Engagement Chinas zutage.
Darüber hinaus geraten im Westen die „Glaubensgrundsätze“ der alten Modernisierungstheorie ins Wanken. Lange wurde davon ausgegangen, dass am Ende jeder erfolgreichen Entwicklung die Verbannung des Religiösen ins Private und die „Befreiung“ der Gesellschaft von „rückwärtsgewandten“ Praktiken und Institutionen stehe. An ihre Stelle trete Säkularismus und technologischer Fortschritt. Durch die Rückkehr der Religion auf die politische Weltbühne, aber auch durch die wachsende Erkenntnis, dass Entwicklungsziele ohne die Berücksichtigung des lokalen Wertekontextes nicht nachhaltig erreicht werden können, werden solche Ansätze zunehmend hinterfragt und neue Formen der Kooperation notwendig.
Vor diesem Hintergrund ist mir der Dialog über global geltende Grundwerte und die Frage, wie wir Werte, Kultur und Religion professionell in unsere Entwicklungsbemühungen einbeziehen, wichtig. Die Verständigung darüber, in was für einer Welt wir leben möchten und an welchen Werten wir und andere sich orientieren sollten, ist kein Randthema, sondern Kern der Debatte um globale Entwicklung.
Auf meinen Reisen, insbesondere in Afrika, begegnen mir immer wieder engagierte Menschen, die ihre Motivation aus dem Glauben ziehen. Da ist der Priester in der Zentralafrikanischen Republik, der die Türen seiner Kirche für Flüchtlinge öffnet. Da sind Bischöfe und Imame, die sich in Nigeria gemeinsam für Frieden und Dialog einsetzen. Da sind großartige Projekte der Kirchen, die in Gebieten aktiv sind, wo die staatliche Entwicklungszusammenarbeit aufgrund fehlender staatlicher Strukturen keinen Zugang hat.
Religion ist in den meisten unserer Partnerländer die entscheidende Werte-Ressource. Religion hilft verstehen, verständigen und verändern! Religion beeinflusst die Weltsicht, den Lebensstil und das Engagement vieler Menschen und stellt dadurch eine starke politische und gesellschaftliche Gestaltungskraft dar. Darüber hinaus tragen religiöse Institutionen seit jeher zu Wohlfahrt bei. Nach Schätzungen der Weltbank werden in Subsahara-Afrika ca. die Hälfte aller Leistungen im Bereich Bildung und Gesundheit von religiösen oder religiös-motivierten Organisationen erbracht. Religiöse Akteure gehören in Entwicklungsländern oft zu den wichtigsten zivilgesellschaftlichen Kräften und unterhalten gleichzeitig ein Netzwerk, das Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene nimmt.
Nicht zuletzt Versöhnung in gewalttätigen Konflikten gelingt am Ende nur in Zusammenarbeit der Religionen. Überall da wo wir mit unserer staatlichen Entwicklungszusammenarbeit hinkommen, sind Religionsgemeinschaften schon längst da. In religiös geprägten Gesellschaften können entwicklungspolitische Maßnahmen nur dann nachhaltige Wirkung entfalten, wenn sie den religiösen Kontext einbeziehen.
Lange hat die Entwicklungspolitik das Potential von Religion für nachhaltige Entwicklung vernachlässigt. Zu viele haben sich gescheut, die Zusammenarbeit mit lokalen Priestern, Imamen oder anderen Religionsvertretern im Interesse unserer gemeinsamen Ziele zu suchen. Aus falsch verstandener „Neutralität“ hat die staatliche Entwicklungspolitik oft einen Bogen um religiöse Motivationen gemacht. Dabei brauchen wir alle gesellschaftlichen Kräfte, um Hunger und Armut zu besiegen. Es gibt auch konkrete Beispiele, wie Religionen segensreich zusammenarbeiten: In Nigeria schlossen sich christliche und muslimische Geistliche im Kampf gegen Malaria zusammen. Unterstützt von der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit warben sie in den Kirchen und Moscheen für die Verwendung von Moskitonetzen. Ziel dieser Initiative ist es, 63 Millionen Moskitonetze an 30 Millionen nigerianische Haushalte zu verteilen. In Mauretanien wurde mit der Unterstützung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit eine Fatwa von islamischen Rechtsgelehrten erlassen, die weibliche Genitalverstümmelung ächtete. Im Anschluss wurde gemeinsam eine Musterpredigt für Imame erarbeitet, die auf die Gefahren von weiblicher Genitalverstümmelung hinwies.
Im BMZ werden wir uns den religiösen Einflüssen in den nächsten Jahren verstärkt widmen. Ich habe dazu eine abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe Werte, Religion und Entwicklung eingesetzt. Auf neuen konzeptionellen Grundlagen wollen wir nationale und internationale Partnerschaften aufbauen. Als Auftakt habe ich im Frühjahr gemeinsam mit Weltbankpräsident Kim Vertreter des Christentums, des Islam und des Judentums zu einem hochrangigen Gesprächskreis eingeladen. Auch internationale Entwicklungsorganisationen wie die Weltbank haben erkannt, dass Entwicklung mehr ist als technische Zusammenarbeit oder die Beförderung des Wirtschaftswachstums um jeden Preis. Entwicklung bedeutet, sich für konkrete Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft und die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.
Zu diesen Werten gehört insbesondere die Religionsfreiheit. Wir erleben: Religion kann nicht nur entwicklungsfördernd, sondern auch entwicklungshemmend wirken. In vielen Regionen der Erde wird im Namen der Religion Unterdrückung und Verfolgung von Minderheiten verübt und so Religion als Brandbeschleuniger in Konflikten benutzt.
Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist ein elementares Menschenrecht. Sie umfasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden. Menschenrechtlich geschützt – und das gilt es ganz klar hervorzuheben – ist auch die Konversion, also das Recht, die Religion zu wechseln.
Weltweit nehmen Einschränkungen und Verletzungen der Religionsfreiheit zu – und zwar nicht nur gegen Christen, sondern gegenüber Angehörigen aller Religionsgemeinschaften. Dies geschieht durch staatliche Restriktionen und Diskriminierung, aber auch durch Anfeindungen im sozialen Umfeld, etwa durch Nachbarn oder Lehrer. Hier fehlt oft der dringend erforderliche staatliche Schutz. Zu den Leidtragenden gehören in zunehmendem Maße Christen im Nahen Osten und in Afrika. Diesem Thema müssen wir uns stellen!
Wo in ganzen Regionen alteingesessene Religionsgemeinschaften vertrieben werden, wo Bombenangriffe auf Gebetshäuser verübt werden, wo Morddrohungen und Diskriminierung im täglichen Leben Menschen in die Flucht treiben, dort geht etwas unwiederbringlich verloren, das für die gesamte Gesellschaft relevant ist: Kultur, Sprache und über Jahrhunderte gewachsene Strukturen des friedlichen Miteinanders. An ihre Stelle treten Misstrauen, Leid und Hass. Dort dürfen wir nicht schweigend zusehen, dort sind Anteilnahme, Solidarität, sofortige Hilfe geboten.
Hilfe muss aber bereits im Vorfeld dieser Schreckensszenarien ansetzen. Entwicklungspolitik ist in diesem Sinne Präventivpolitik. Unser Ziel ist es, gewaltsame Auseinandersetzungen zu verhindern, aber auch nach überstandenen Konflikten eine Rückkehr, eine Versöhnung und ein friedliches Zusammenleben wieder möglich zu machen. Stärkung von rechtsstaatlichen, korruptionsfreien Institutionen, die allen religiösen Gruppen offenstehen und einen Raum schaffen, in dem die Religionsfreiheit gelebt werden kann, ist uns dabei ein wichtiges Anliegen.
Die deutsche Entwicklungspolitik mit Menschenrechten als Leitprinzip misst der Menschenwürde eine ganz zentrale Bedeutung bei und setzt sich für die Religionsfreiheit als elementares Menschenrecht ein. Wir fordern dies auch ganz konkret in den Gesprächen mit unseren Partnerregierungen. Wir unterstützen die Entwicklung von pluralistischen Gesellschaften, in denen Religionsfreiheit garantiert und umgesetzt wird. Dabei wird keine religiöse Minderheit bevorzugt behandelt. Dieser Grundsatz ist wichtig, denn selektive Maßnahmen können weitere Diskriminierungen hervorrufen und demzufolge konfliktverschärfend wirken.
Der barmherzige Samariter aus dem neuen Testament hat nicht nach der Religionszugehörigkeit oder Nationalität dessen gefragt, den er im Graben liegen sah. Seine Werthaltung hat ihn zum Handeln getrieben. Eine wertebasierte Entwicklungspolitik engagiert sich ebenfalls dort, wo Menschenwürde und Menschenrechte bedroht sind und schaut nicht einfach zur Seite.
Der Textbeitrag wurde in der Broschüre der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Das christliche Menschenbild und unsere Politik – Beiträge zum Werteverständnis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion“ unter den Bedingungen einer Creative Commons License veröffentlicht.
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