Redeauszug des Bundestagsabgeordneten Tobias Winkler in der Bundestagsdebatte zu Gesetzentwürfen zur Wahl zum Europäischen Parlament am 15.6.2023:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen!
In der letzten Sitzungswoche haben wir an dieser Stelle bereits über die anstehende Änderung des Europawahlgesetzes gesprochen. Inhaltlich wurde dazu bereits alles gesagt. Der Inhalt, lieber Kollege Ulrich, steht heute auch gar nicht zur Debatte; diese Diskussionen wurden 2017 und 2018 in Brüssel und Straßburg geführt und sind seit fünf Jahren beendet.
Der Beschluss fiel im Rat der EU am 13. Juli 2018. Wir können diese Entscheidung heute zum Teil umsetzen – zum Teil deshalb, weil wir heute nur den ersten Schritt gehen können: die Ratifizierung. Sobald alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben, muss dann der zweite Schritt erfolgen: die Umsetzung und Änderung des EU-Wahlrechts.
Konkret geht es um die Wiedereinführung einer Prozenthürde bei den Europawahlen. Das ist nichts Neues; die gab es in Deutschland bereits bei der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament im Jahr 1979 und bei allen Wahlen danach, bis sie 2011 und 2014 vom Bundesverfassungsgericht denkbar knapp – mit 5 : 3 Stimmen – gekippt wurde. Der Zweite Senat hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2014 gleichzeitig den Weg aufgezeigt, wie diese Hürde wieder einführbar ist, und zwar mit einer Regelung auf EU-Ebene.
Dieser Beschluss auf EU-Ebene ist erfolgt, und zwar im Jahr 2018, also vor fünf Jahren. Fünf Jahre brauchen wir, um einen solchen Beschluss zu ratifizieren. Meine Erkenntnisse dazu aus den letzten Monaten: Die SPD beteuert, an ihr habe es nicht gelegen. Die FDP sagt, auch an ihr habe es nicht gelegen. Ich habe sicherheitshalber auch noch mal bei uns, in der Union, nachgefragt: An uns hat es auch nicht gelegen.
Also, liebe Grüne, Sie müssen sich die Frage stellen lassen, warum Sie diese Umsetzung schon fünf Jahre verzögert haben. Sie bezeichnen sich heute als „verlässlicher Partner in Europa“. Ich würde sagen: Anspruch und Wirklichkeit laufen hier etwas auseinander.
Beschlüsse zeitnah umsetzen
Warum haben Sie das fünf Jahre verzögert? Weil Ihnen der Beschluss nicht passt. Das haben Sie ja heute öfter zum Ausdruck gebracht. Aber so kommen wir in der Europäischen Union eben genau nicht voran. Wenn wir sogar in Deutschland Beschlüsse, die uns nicht passen, einfach über Jahre hinweg verschleppen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn andere Staaten diesem Beispiel folgen. Wir sind in der Europäischen Union eine Rechtsgemeinschaft, und da gehört es dazu, dass man Beschlüsse auch umsetzt.
Heute wurden Sie von Ihren Koalitionspartnern zwar endlich dazu gebracht, zu ratifizieren; aber Sie verzögern weiterhin. Sie haben die Anwendung für das Jahr 2029 in Aussicht gestellt; das wäre schon elf Jahre nach dem Beschluss. In der Expertenanhörung fiel sogar das Jahr 2034, also 16 Jahre nach dem Beschluss auf europäischer Ebene.
Mein Appell geht deshalb an die SPD und die FDP, aber eben auch an Sie von den Grünen, dass wir die Zeit, die wir jetzt verschenkt haben, dadurch wieder reinholen, dass wir schnell die Umsetzung beschließen. Sie dürfen den Text für die Wahlrechtsänderung gerne von uns übernehmen, Sie dürfen Ihre Namen daraufsetzen – übrigens etwas, was Sie öfter ausprobieren sollten; unsere Juristen schreiben sehr, sehr gute Gesetze.
Sofern Spanien und Zypern rechtzeitig ratifizieren, können wir die Prozenthürde auch noch zur Europawahl 2024 einführen. Wie wir am Montag in der Expertenanhörung gehört haben, wäre dafür sogar ein Vorratsbeschluss möglich, sogar innovativ. Das in der Debatte oft angeführte Argument, dass laut der Venedig-Kommission die Einführung einer Prozenthürde mindestens ein Jahr vor der Wahl erfolgen müsse, ist wenig überzeugend. Hier geht es um Grundelemente des Wahlrechts wie das Wahlsystem, die Wahlausschüsse oder den Zuschnitt von Wahlkreisen. Das Hamburgische Verfassungsgericht hat die Einführung einer Prozenthürde nur fünf Monate vor der Wahl gebilligt. Und das Bundesverfassungsgericht hat die Prozenthürde vor der Europawahl 2014 am 26. Februar abgeschafft; die Wahl fand am 25. Mai statt. Das waren weniger als drei Monate. Einer kurzfristigen Einführung steht also aus rechtlicher Sicht nichts im Wege.
Auch Ihr Verweis, Herr Kollege Abel, dass die Umsetzung spätestens bei der übernächsten Wahl erfolgen soll, war erstens auf den Beschluss im Sommer 2018 bezogen; hier wollte man einen Spielraum mit Blick auf die Europawahl 2019 lassen. Zweitens heißt „spätestens“ nicht „erst auf den letzten Drücker“, sondern „ab sofort“. Und drittens zwingt nicht einmal das Bundesverfassungsgericht zum Ausreizen der Umsetzungspflicht, wenn es in dem Urteil schreibt: Künftige Entwicklungen kann der Gesetzgeber dann maßgeblich berücksichtigen, wenn sie aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren sind.
Das heißt: Wir können hier schnell umsetzen nach der Ratifizierung in allen Mitgliedstaaten. Wir können auch Zypern und Spanien dazu bewegen, wie der Kollege Axel Schäfer es schon angedeutet hat. Heute benötigen wir eine Zweidrittelmehrheit. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Gesetzesvorschlag zustimmen. Der Text ist uns bestens bekannt.
Lassen Sie uns anschließend gemeinsam den zweiten Schritt gehen und auch das Wahlrecht ändern!
Danke.
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