CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt will Region schnell und großzügig helfen.
Herr Dobrindt, droht Europa nach dem Taliban-Vormarsch eine neue
Flüchtlingswelle?
Wir müssen uns mit zwei möglichen unmittelbaren Folgen auseinandersetzen:
Die erste ist eine neue Terrorgefahr, wie wir sie vor 2001 hatten, als die
Taliban den internationalem Terrorismus Unterschlupf gaben und diesen
unterstützten. Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass sich die Taliban des
Jahres 2021 von den Taliban aus dem Jahr 2001 unterscheiden. Das führt zur
zweiten unmittelbaren Folge, nämlich Fluchtbewegungen als Ergebnis dieser
Machtübernahme.
Bis nach Europa?
Das UNHCR geht momentan davon aus, dass sich der größere Teil der
Fluchtbewegung aktuell innerhalb Afghanistans abspielt. Wie lange das so
bleibt, ist offen, ich gehe davon aus, dass der Druck auf die Grenzregionen
deutlich ansteigen wird. Die Nachbarländer Afghanistans werden damit sehr
unterschiedlich umgehen, deshalb müssen wir das UNHCR sehr schnell mit den
nötigen finanziellen Mitteln ausstatten, um die flüchtenden Menschen in
diesen Nachbarländern zumutbar unterzubringen. Deutschland muss jetzt
umgehend finanzielle Zusagen an das UNHCR geben. Da geht es mit Sicherheit
um Milliardenbeträge. Aber die Lehre aus 2015 heißt auch, das UNHCR mit
stabilen Finanzen auszustatten, um Flüchtlingen in den Regionen vor Ort zu
helfen und unterzubringen.
Die Bundesregierung will mit den Taliban verhandeln. Ist ihnen zu trauen?
Es gibt keine andere Möglichkeit. Die Evakuierung der deutschen Staatsbürger
sowie der afghanischen Ortshelfer und ihrer Familien hat hohe Priorität.
Aktuell blockieren die Taliban aber die Zuwege zum Flughafen für afghanische
Bürger. Deshalb muss die Bundesregierung mit ihnen reden.
Die Grünen hatten im Bundestag eine rasche Evakuierung beantragt. Warum
haben Sie nicht zugestimmt?
Dazu gab es bereits Initiativen der Bundesregierung: 1.900 Ortskräfte und
ihre Familien wurden bisher nach Deutschland gebracht. Rückblickend hätte
man schneller sein müssen. Es wird nun Teil der Aufarbeitung sein, warum es
international im Westen und auch in Deutschland eine völlige
Fehleinschätzung über das Vorgehen der Taliban und der Reaktionen des
regulären afghanischen Militärs gab.
Braucht Deutschland einen Nationalen Sicherheitsrat?
Das kann neben dem Sicherheitskabinett ein weiteres Instrument sein. Aber
entscheidender ist die Bereitschaft, dass wir unsere Bündnisverpflichtungen
auch einhalten.
Sie sprechen von den Verteidigungsausgaben?
Das Nato-Ziel, wonach jedes Land zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts
(BIP) für Verteidigung ausgibt, muss mittelfristig erreicht werden. In
Sicherheitsfragen sind wir stark abhängig von den USA, was man ja aktuell
leider sehr deutlich sieht. Gerade deswegen müssen wir ein Interesse daran
haben, verlässliche Bündnispartner zu sein, und wenn man gleichzeitig diese
Abhängigkeit reduzieren will, muss man die Voraussetzungen dafür schaffen.
Das würde ich auch als eine europäische Aufgabe verstehen.
Dafür werden Sie nicht nur Beifall bekommen.
Linke Parteien stellen sowohl die Nato als auch unser internationales
Engagement infrage. Doch wer die Notwendigkeit sieht, sich bei
Sicherheitsfragen auch außerhalb Europas engagieren zu können, Zivilisten zu
schützen oder – wie jetzt – Evakuierungen vorzunehmen, braucht dafür auch
die nötigen Mittel.
In Afghanistan steht man nach 20 Jahren Einsatz nun mit leeren Händen da.
Der Demokratisierungsprozess ist gescheitert. Ich glaube wir müssen stärker
als bisher akzeptieren, dass kulturelle Unterschiede auch in Fragen der
Demokratie offensichtlich selbst nach 20 Jahren nicht überwunden werden
können. Leider lassen sich liberale demokratische Gesellschaften nach
westlichem Vorbild nicht auf Druck von außen verordnen – auch wenn der
Einsatz noch so hoch ist. Das muss uns eine Lehre für künftige Einsätze der
westlichen Wertegemeinschaft sein.