Im aktuellen Interview mit dem Münchner Merkur spricht Alexander Dobrindt, Chef der CSU im Bundestag, über die aktuelle Pandemie-Lage, Öffnungsperspektiven und Brüsseler Fehlleistungen in Bezug auf die Impstoff-Beschaffung.
Herr Dobrindt, Angela Merkel warnt vor „falschen Hoffnungen“, Jens Spahn sagt: „Wir können nicht den ganzen Winter im harten Lockdown bleiben.“ Wer hat recht?
Da gibt es keinen Widerspruch. Es herrscht ein hoher Druck auf Lockerungen, aber wir dürfen nicht zu früh lockern und uns falschen Sicherheitsgefühlen hingeben. Gleichzeitig müssen wir aber auch klare Perspektiven geben, unter welchen Bedingungen mit Lockerungsmaßnahmen zu rechnen ist. Das kann nur mit Augenmass und schrittweise gehen. Der Gesamtblick auf die aktuelle Situation spricht allerdings dafür, dass in der nächsten Woche schnelle Lockerungen nicht zu erwarten sind.
Wäre ein Stufenplan Teufelszeug?
Ein komplexer Stufenplan wird dem sich verändernden Pandemiegeschehen nicht gerecht werden können. Aber es braucht deutlich unterhalb von einer Inzidenz von 50 einen Orientierungspunkt der begründbar mit Lockerungen im Zusammenhang steht.
Vor der britischen Mutation wird nun schon seit vielen Wochen gewarnt – die Zahlen gehen aber immer weiter runter.
Wir müssen froh sein, dass sich die Mutation nicht schnell durchsetzt. Wir stehen gerade an einer Weggabelung: Noch kann man nicht vorhersagen welchen Weg das Virus geht. In unseren Nachbarländern haben wir gesehen, dass neben den sinkenden Zahlen bei den Primärinfektionen eine versteckte, dynamisch steigende Zahl von Mutations-Infektionen stattgefunden hat. Das hat zu den explosionsartigen Zahlen z. B. in Portugal, Irland und Spanien geführt.
Wenn Sie die Wahl hätten, was Sie aufsperren: Erst Schulen und Kitas oder erst die Friseure?
Nochmal, schnelle Lockerungen sehe ich noch nicht. Aber wenn man über die Reihenfolge von Lockerungsmechanismen diskutiert muss nicht zwingend die Schule zu Beginn stehen. Ich weiß, dass die Forderungen danach besonders stark sind und es dafür auch gute Gründe gibt, aber ein mögliches Infektionsgeschehen in de Schulen stellt aus meiner Sicht kein unwesentliches Risiko dar. Ich könnte mir Lockerungen beispielsweise bei körpernahen Dienstleistungen zu Beginn eher vorstellen.
Markus Söder plädiert für einheitliche Regeln. Muss ganz Bayern warten, bis Tirschenreuth bei 50 sind?
Einheitliche Regelungen sind sinnvoll – am besten in ganz Deutschland.
Wie sind einheitliche Regeln mit der bayerischen Ausgangssperre ab 21 zu vereinbaren, die es in weiten Teilen Deutschlands nicht gibt. Ist die bei einer Inzidenz unter 50 zu rechtfertigen?
Ja, nach wie vor. Wir sind durch unsere Nachbarländer stärker vom Infektionsgeschehen betroffen. Und keiner kann aktuell sagen, wie sich das Infektionsgeschehen in Österreich durch die dortigen Lockerungen auf Bayern auswirkt.
Zum Impfen: Warum räumt Ursula von der Leyen Fehler ein, wenn doch laut Merkel „im Großen und Ganzen“ alles gut gelaufen ist.
Ich will nicht die einzelnen Sätze bewerten. In Brüssel gab es Fehlleistungen und Fehleinschätzungen – weniger bei den benötigten Mengen des Impfstoffs aber beim zeitlichen Zulauf der Impfdosen. Zudem wurden wegen der Debatte um das völlig verfehlte Wort vom „Impfstoffnationalismus“ die Prioritäten falsch gesetzt. Ich war immer für ein europäisches Vorgehen, aber parallel dazu war und ist eine nationale Initiative notwendig. Das gilt übrigens auch bei der Beurteilung und möglicherweise Beschaffung von russischen oder chinesischen Impfstoffen.
National?
Am besten europäisch. Aber wenn man in Europa der Meinung ist, dass man nicht als Schnellboot agieren kann, sondern nur als langsamer Tanker, dann empfiehlt es sich, nicht auf den Tanker zu warten, sondern ergänzend auch nationale Maßnahmen zu ergreifen.
Viele Menschen sind verärgert, weil Frau Merkel darauf beharrt, es sei nichts schief gelaufen.
So habe ich sie nicht verstanden. Natürlich werden bei der Bewältigung einer Pandemie Fehler gemacht. Die Frage ist, mit welchen Maßnahmen Fehler auch korrigiert werden können. Wir müssen die Entscheidungen nachschärfen – zum Beispiel, indem man den Impfstoff von AstraZeneca nicht auf Erst- und Zweitimpfung teilt, sondern gleich voll verimpft.
Haben Sie Angst, dass Ihnen das Impf-Thema im Wahlkampf um die Ohren fliegt?
Es geht nicht um strategische Wahlkampfbetrachtungen. Das Impfen ist die Lösung aus der Pandemie heraus: Leben retten, Freiheit bewahren und wirtschaftlicher Neustart. Wir werden im Zuge der vielen Probleme bei der Impfstoffbeschaffung auch wieder über nationale und europäische Souveränität reden müssen. Wir haben bei den Masken und der Schutzausrüstung bereits gehandelt, um Produktionen zurück zu verlagern nach Europa. Die gleiche Debatte müssen wir auch bei grundlegenden medizinischen Gütern und Arzneimitteln führen. Es gibt klare Fehler der Globalisierung. Dazu gehört in manchen Bereichen die einseitige Abhängigkeit von einer Region in der Welt.
Markus Söder propagiert weiter die harte Linie. Mit Blick auf die Kanzlerkandidatur ist das riskant.
Sie sollten bitte die Sorge um die Gesundheit nicht mit strategischen Fragen zur Wahl vermischen.
Teilen Sie eigentlich Söders pausenloses Werben für Schwarz-Grün?
Ich habe keine romantischen Gefühle gegenüber den Grünen. Unter den aktuellen Bedingungen kann ich mir eine Koalition nur sehr schwer vorstellen. Wo wir auf Chancen setzen, wollen die Grünen Schulden und wo wir auf Wachstum setzen, wollen die Grünen den Abbau von Exportüberschüssen. Das Programm der Grünen ist wohlstandsgefährdend für Deutschland.
Bei Ihnen klingen die Grünen wie der Hauptgegner, bei Söder nach Kuscheltier.
Markus Söder und ich sehen beide die Grünen als Hauptgegner, die in Teilen um ein überschneidendes Wählerpotenzial werben. Deswegen steht diese Auseinandersetzung sicher mehr im Fokus als die mit der SPD.