Rede zum Antrag der Linksfraktion

Zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (2. NS-AufhGÄndG) gab Norbert Geis folgende Rede zu Protokoll:

Die Fraktion Die Linke will mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weitere Urteile, die in der nationalsozialistischen Zeit ergangen sind, ohne Einzelfallprüfung pauschal aufheben und für ungültig erklären. Mit dem Gesetz über die Aufhebung nationalsozialistischer Urteile vom 25. August 1998 hat der Gesetzgeber Gesetze aufgelistet, die den elementaren Grundsätzen der Gerechtigkeit widersprochen haben. Die aufgrund dieser Gesetze ergangenen Urteile wurden durch Gesetz pauschal aufgehoben. Den Katalog dieser Gesetze hat die rot-grüne Koalition mit Gesetz vom 23. Juli 2002 ergänzt. Nun will die Fraktion Die Linke diesen Katalog um die Tatbestände des Militärstrafgesetzbuches, die vom Kriegsverrat handeln (§ 57, 59 und 60 NStGB) erweitern und damit auch alle Urteile, die auf Grundlage dieses Gesetzes ergangen sind, pauschal aufheben.

Man fragt sich natürlich, warum mehr als 60 Jahre nach Ende der Nazizeit immer noch die Forderung kommt, Urteile aus dieser Zeit pauschal aufzuheben. Pauschal heißt, ohne Prüfung des Einzelfalles, ohne sich die Frage zu stellen, ob einzelne Urteile damals, bei allen Abstrichen, die man machen muss, nach den damaligen Umständen nicht doch rechtens gewesen sein könnten.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 19. Februar 1957 bei der pauschalen Aufhebung von Gesetzen nationalsozialistischer Herkunft sehr abgewogene Maßstäbe gesetzt. Es hat festgestellt, dass unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Gesetze entstanden sind, denen die Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit gewissermaßen auf der Stirn geschrieben stand, und dass ihnen deshalb jede Gültigkeit als Recht abgesprochen werden muss. Selbstverständlich sind dann auch die Urteile, die auf solchen Gesetzesgrundlagen ergangen sind, von Anfang an nichtig.

Das Verfassungsgericht hat aber auch ausgeführt, dass nicht alle Gesetze, nur weil sie in der Nazizeit erlassen wurden, ohne Prüfung ihres Inhaltes pauschal als rechtsunwirksam aufgehoben werden dürfen: „Eine solche Annahme würde übersehen, dass auch eine ungerechte und von geläuterter Auffassung aus abzulehnende Gesetzgebung durch das auch ihr innewohnende Ordnungselement Geltung gewinnen kann.“ Das Verfassungsgericht weist darauf hin, dass durch solche Gesetze wenigstens Rechtssicherheit geschaffen werden konnte und, wenn die äußersten Grenzen der Gerechtigkeit nicht überschritten wurden, so dem Rechtschaos entgegengewirkt werden konnte. In diesem Sinne können auch Urteile Bestand haben, wenn sie innerhalb des weit gesteckten Rahmens der Gerechtigkeit für Rechtssicherheit und für Rechtsordnung gesorgt und dem Rechtschaos entgegengewirkt haben. Deshalb ist also bei der pauschalen Aufhebung solcher Urteile größte Sorgfalt anzuwenden. Immer muss gefragt werden, ob diese Urteile, wenn auch bei aller Unzulänglichkeit, nicht doch der Rechtsidee entsprochen haben, wie sie zu allen Zeiten Gültigkeit hat.

Diesen Gedanken des Verfassungsgerichtes hat das Gesetz vom 25. August 1998 aufgegriffen. Durch § 1 dieses Gesetzes wurden Urteile, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 erlassen wurden, pauschal aufgehoben. In diesen Fällen kann die Staatsanwaltschaft auf Antrag die Aufhebung des Urteils feststellen. Über die Feststellung der Aufhebung erteilt die Staatsanwaltschaft eine Bescheinigung. Nicht also die Staatsanwaltschaft hebt auf, sondern die Staatsanwaltschaft stellt nur fest, dass dieses Urteil unter die Generalklausel des § 1 und damit durch das Gesetz vom 25. August 1998 pauschal aufgehoben worden ist.

Um nun der Staatsanwaltschaft die Feststellung, dass ein Urteil aus der NS-Zeit im Sinne dieser genannten Generalklausel aufgehoben ist, zu erleichtern, hat der Gesetzgeber in § 2 Regelbeispiele gebildet. Dazu gehört ein langer Katalog von Nazigesetzen. Bei solchen Gesetzen ist davon auszugehen, dass Urteile, die darauf beruhen, gegen die Generalklausel verstoßen und deshalb ohne Einzelfallprüfung aufgehoben sind. Beruhen Urteile nicht auf diesen Regelbeispielen, hat die Staatsanwaltschaft im Einzelfall dennoch die Möglichkeit, festzustellen, dass ein Urteil im Sinne der Generalklausel des § 1 des Gesetzes vom 25. August 1998 aufgehoben ist, weil die Voraussetzung des § 1 gegeben ist. Der damals mit Gesetz von 1998 erstellte Katalog von Gesetzen wurde über die Parteigrenzen hinweg einvernehmlich beschlossen.

Mit dem Gesetz vom 23. Juli 2002 hat die damalige rot-grüne Regierungskoalition diesen Katalog gegen das Votum von CDU/CSU nochmals erweitert und darin die § 175, 174 a RStGB sowie einzelne Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches (unter anderem Desertion, Feigheit vor dem Feind, unerlaubte Entfernung) aufgenommen. Für die CDU/CSU-Fraktion war bei der Abstimmung klar, dass die Urteile von Militärgerichten gegen Homosexuelle pauschal aufzuheben waren, weil sie dem elementaren Gedanken der Gerechtigkeit widersprachen. Dies hatte der Bundestag bereits in einer früheren Entschließung auch so zum Ausdruck gebracht. Die CDU/CSU-Fraktion war jedoch nicht damit einverstanden, dass auch die Urteile wegen Desertion pauschal aufzuheben waren, weil bekannt war, dass in manchen Fällen durch Desertion Unrecht geschehen ist. Dieses Unrecht wollte die CDU/CSU damals im Nachhinein nicht für Recht erklären. Im Übrigen wollten wir auch nicht die Richter, wie Dr. Sack, der mit Bonhoeffer hingerichtet worden ist, nachträglich pauschal ins Unrecht setzen, weil sie solche Urteile erlassen haben. Deshalb hat die CDU/CSU diesem Gesetz nicht zugestimmt.

Immerhin aber hat der Gesetzgeber bei dieser Änderung des NS-Aufhebungsgesetzes im Jahre 2002 bewusst davon abgesehen, Verurteilungen wegen Kriegsverrat per se als nationalsozialistisches Unrecht zu qualifizieren. Dies heißt nicht, dass nicht nach Prüfung des Einzelfalles die Staatsanwaltschaft feststellen kann, dass es sich um ein Unrechtsurteil handelt, das aufgehoben ist, weil es gegen die Generalklausel des § 1 des Gesetzes vom 25. August 1998 verstößt. Die rot-grüne Koalition sah aber in einer generellen Aufhebung von Urteilen, die sich auf den Tatbestand des Kriegsverrates bezogen, neues Unrecht. Wer Kriegsverrat beging, hat oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kameraden geschadet, ja sie oft in Lebensgefahr gebracht, in der sie dann auch umgekommen sind, dies zum Beispiel dann, wenn der Verräter zu den feindlichen Linien überwechselte und, um sich dort lieb Kind zu machen, die Stellungen der eigenen Kameraden verriet, von der er geflüchtet war. Der Feind konnte sich darauf einrichten und den Standort der Truppe unter Beschuss nehmen, wobei viele ihr Leben verloren haben.

Dies gilt auch für die Fälle, dass Überläufer Pläne von Truppenbewegungen an den Feind verraten haben. Dies führte dazu, dass die eigenen Kameraden nicht selten in eine tödliche Falle gerieten. Der Verräter hat in diesen Fällen auch nach unseren heutigen Maßstäben verwerflich gehandelt. Aus diesem Grund hat die rot-grüne Koalition bei der seinerzeitigen Ergänzung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 23. Juli 2002 ausdrücklich davon abgesehen, die Urteile wegen Kriegsverrates pauschal aufzuheben. Die damalige Mehrheit scheute davor zurück, ein Verhalten, durch welches das Leben der eigenen Kameraden schwer in Gefahr geraten ist, nachträglich zu sanktionieren. Wer desertiert ist, um die eigene Haut zu retten und um beim Feind überhaupt aufgenommen zu werden, auch die Stellungen seiner Kameraden verriet, hat sich nach allen Maßstäben der zivilisierten Welt in höchstem Maße verwerflich verhalten. Durch die generelle Aufhebung dieser damaligen Urteile wegen Kriegsverrates aber würde ein solch verwerfliches Verhalten nachträglich sanktioniert werden. Dies kann nicht rechtens sein.

Die Fraktion Die Linke will sich aber über diese Grundsätze hinwegsetzen. Ihren Gesetzentwurf begründet sie damit, der Kriegsverrat sei immer politisch und moralisch motiviert gewesen und sei mit kriminellen Taten nicht vereinbar. Dass dies im Einzelfall gerade nicht richtig ist, habe ich dargetan.

Im Gesetzentwurf wird als weiterer Grund genannt, durch solche verräterische Taten sei die Militärmacht Hitlers geschwächt worden und der Krieg sei auf diese Weise zu einem schnelleren Ende gekommen.

Ganz abgesehen davon, dass ganz andere Gründe den Zusammenbruch des Nazi-Regimes verursacht haben, ist diese Argumentation in hohem Maße machiavellistisch. Man kann nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, kann nicht Unrecht durch Unrecht ersetzen. So entsteht immer neues Unrecht. Außerdem missachtet dieses Argument den wichtigen Unterschied, den das Völkerrecht zu allen Zeiten gemacht hat: das ius in bello und das ius ad bellum. Hitler hatte zweifellos kein Recht zum Angriffskrieg. Das ius ad bellum stand ihm nicht zur Seite. Er ist deshalb einer der größten Kriegsverbrecher aller Zeiten. Aber auch in einem ungerechten Krieg müssen Rechtsregeln gelten, kann nicht das Verbrechen des Verrates generell als gerechtfertigte Tat abgesegnet werden.

Das heißt nicht, dass eine solche Tat im Einzelfall nicht als eine Widerstandstat anzusehen ist. Dazu aber bedarf es einer Einzelfallprüfung. Sonst würde man pauschal Widerstandskämpfer mit simplen verbrecherischen Verrätern auf eine Stufe stellen. Deshalb lehnen wir die pauschale Aufhebung von Urteilen, die auf Kriegsverrat gestützt sind, ab.

Druckversion