Wie entstehen Parallelgesellschaften? Wie leben Muslime in Deutschland? Was muss die Politik tun? Im Interview geben die Islam-Expertinnen Düzen Tekkal und Professor Susanne Schröter Antworten.
Wie lebt man den Islam in Deutschland? Und wie erleben Sie die Muslime in Deutschland?
Schröter: Ein großer Teil der in Deutschland lebenden Muslime sind „Kulturmuslime“, die der Religion keine zentrale Rolle im Leben beimessen. Sie fallen weder optisch durch „islamische Kleidung“ auf, noch dadurch, dass sie islamische Regeln durchsetzen wollen. Für sie ist Frömmigkeit eine private Angelegenheit, die im Familienkreis gelebt wird, ähnlich wie bei den meisten Christen. Es gibt aber auch einen anderen Teil. Dieser versteht sich explizit als fromm und hält sich an die fünf Säulen des Islam. Ein zunehmend großer Teil dieser Frommen, ich nenne sie Orthodoxe, versucht die Welt in zwei Kategorien zu gliedern, das Erlaubte (halal) und das Verbotene (haram). Ziel ist ein Leben nach der Scharia. Sie kämpfen darum, ihre religiösen Praktiken auch in Deutschland einzuführen.
Journalistin Düzen Tekkal (l) und Professorin Susanne Schröter (r)
Wie genau geschieht dies?
Schröter: Das reicht von der Verweigerung des Handschlags bis zur Ablehnung des gemischtgeschlechtlichen Sport- und Schwimmunterrichts. Eine Untergruppe der Orthodoxen ist radikal, lehnt Kontakte mit Nichtmuslimen vollkommen ab und legitimiert auch Gewalt bei der Durchsetzung islamischer Ziele.
Tekkal: Dazu passt ein anderer Aspekt: Islamisches Leben in Deutschland geschieht überwiegend in der Familie, oft im Rahmen der Großfamilie, wo Kinder in erster Linie einer Vielfalt von Beeinflussungen der Verwandten ausgesetzt werden. Eine Infragestellung dieser Beeinflussung kann gewöhnlich erst während der Pubertät geschehen, wenn in der Schule ein quellenkritischer Umgang mit religiösen Fragen gelehrt wurde. Dies geschieht aber häufig mangels Kompetenz der Lehrkräfte nicht.
Welche Strömungen gibt es in Deutschland und wie sind diese integriert?
Tekkal: Alles, was in Deutschland „Strömung“ genannt werden kann, hat Integration bestenfalls als Lippenbekenntnis im Rahmen ihrer religiösen Weltanschauung.
Schröter: Es gibt eine große Vielfalt den Islam zu praktizieren und seine zentralen Quellen, den Koran und die islamischen Überlieferungen, auszulegen. Moderate, liberale und humanistische Muslime streben entweder eine Reform der Quellen an oder sehen diese als historisch gebunden und daher nicht unbedingt für die Gegenwart geeignet an. Das betrifft zum Beispiel Koranverse, die männliche Dominanz legitimieren und alles, was den Krieg gegen vermeintlich „Ungläubige“ rechtfertigt. Orthodoxe und radikale Muslime interpretieren den Koran wörtlich und halten den Propheten Muhammed für das ultimative Vorbild eines jeden Muslims. Das führt zwangsläufig zu Problemen mit unseren Normen und Werten.
Man spricht immer wieder von der Entstehung von Parallelgesellschaften. Wodurch werden diese begünstigt?
Tekkal: Parallelgesellschaften entstehen häufig durch demonstrative und demonstrierte Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft, oft auch durch mehr oder weniger deutliche Ablehnung der „fremden“ Mentalität und anderen Religion. Dies geschieht oft schon lange, bevor diese als Angstquelle wahrgenommen und die Angst „gepflegt“ wird - also als Mittel der Abwehr von Ablehnung. Aber dies gilt auch in die andere Richtung, denn häufig fehlen das Interesse und der Wille sich voll auf die neue Heimat einzulassen.
Schröter: Gefördert werden Parallelgesellschaften durch städteplanerische Maßnahmen, bei denen Zuwanderer sich in bestimmten Stadtvierteln ansiedeln, die dann nach und nach ethnische Kolonien werden. Warnende Beispiele sind das belgische Molenbeek oder die französischen Banlieues.
Gibt es dies in Deutschland?
Schröter: In Deutschland haben wir dies in geringerem Umfang. Parallelgesellschaften werden aber auch durch die Etablierung einer muslimischen Parallelstruktur vom Kindergarten über die Jugendarbeit bis zur Seelsorge gefördert. Grundsätzlich ist zwar nichts dagegen einzuwenden, wenn eine Moscheegemeinschaft Jugendarbeit macht oder einen eigenen muslimischen Fußballclub gründet, doch es ist zu bedenken, dass diese Jugendlichen über die Schule häufig hinaus keinen Kontakt zu nichtmuslimischen Jugendlichen haben. Wenn sich Muslime nur noch im eigenen muslimischen Umfeld aufhalten, das zusätzlich stark religiös bestimmt wird, kann Integration nicht gelingen.
Wo liegen die Herausforderungen bei der Integration?
Tekkal: Wichtig ist, den Teufelskreis um Ablehnung und Abschottung zu durchbrechen. Das gelingt im Wesentlichen durch eine massive Verstärkung quellenkritischer öffentlicher Ethik- und Werteerziehung, die natürlich eine entsprechende intensive Schulung der Lehrpersonen voraussetzt. Gemeint sind dabei nicht nur die Lehrer im schulischen, sondern auch im außerschulischen Bereich, bis hin zu entsprechend ausgebildeten „Streetworkern“ an sozialen Brennpunkten unserer Mittel- und Großstädte.
Schröter: Schulen wächst die anspruchsvolle neue Aufgabe zu, die Integration aller Kinder und Jugendlicher zu begleiten. Sie hat einen entscheidenden Anteil an der Herausbildung einer pluralistischen Gesellschaft mit durchlässigen Milieugrenzen. Dazu müssen Lehrkräfte fortgebildet werden. Wir müssen über ein neues Schulfach nachdenken, in dem Kinder und Jugendliche fit für die herausfordernde multikulturelle Welt gemacht werden. Dabei sollte vergleichende Religionskunde, internationale Kulturkunde, Philosophie, globale Politik und Staatsbürgerlehre gekoppelt werden mit Demokratie- und Toleranzerziehung.
Und was kann die Politik tun?
Tekkal: „Die Politik“ ist zudem dringend gefordert, notwendiges Personal einzustellen - von der Kindergarten- bis zur Hochschulebene. Außerdem sind die dazu benötigten finanziellen Mittel bereitzustellen. Beim Thema Integration muss an der Wurzel gearbeitet werden. Es reicht nicht hin und wieder ein paar Äste zu stutzen.
Schröter: Das kann ich nur unterstreichen: Die Entstehung ethnisch-religiöser Milieus muss unter allen Umständen verhindert werden. Das spielt auch bei der Unterbringung Geflüchteter eine Rolle. Die Politik sollte nach dem Prinzip der Partizipation und nicht der Repräsentation handeln.
Was bedeutet das genau?
Schröter: Das bedeutet, nicht nur die Vertreter großer muslimischer Verbände zu Ansprechpartnern zu machen und sie in Gremien und Dialogkreisen beteiligen, sondern auch die weniger religiös organisierten Muslime, die wichtige Arbeit in zivilgesellschaftlichen Organisationen leisten. Die Verbände vertreten einen orthodoxen Islam, teilweise mit fließenden Grenzen zu den Radikalen. Zudem sind sie häufig vom Ausland gesteuert. Man sollte ihnen nicht die Rolle der Vertreter der Muslime und Musliminnen in Deutschland zuweisen, die sie faktisch nicht besitzen. Gegen Radikale sollte konsequenter vorgegangen werden. So sollte man Wege finden, die Koranverteilungsaktivitäten von Salafisten zu verbieten, da diese ausschließlich der Anwerbung von Jugendlichen dienen.
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